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Gastbeiträge

Administrator (jjsa) on 31.3.2022

Von Seltenem und weniger Seltenem

Katharina Tscheu, 23.03.2022, https://diagnose-lebensfroh.de

„Seltenes ist selten und Häufiges ist häufig“ - wie oft habe ich diesen Satz bereits im Medizinstudium gehört. Insbesondere im Fach Mikrobiologie fiel er immer wieder, als es darum ging, sich mit den zahlreichen häufigen und weniger häufigen Bakterien auseinanderzusetzen. So hat jeder vermutlich auch wenn man nicht Medizin studiert, schon einmal von Staphylokokken gehört – vielleicht im Zusammenhang mit MRSA, einem typischen Krankenhauskeim in Deutschland. Hingegen ist das Bakterium Francisella tularensis selbst unter MedizinerInnen und Medzinstudierenden eher unbekannt - dennoch werden in Deutschland jährlich ca. 50 Infektionen durch dieses Bakterium hervorgerufen. Es ist der Erreger der Hasenpest. Trotz seiner Seltenheit bekam dieser Erreger eine eigene Lernkarte von mir – ein seltener Erreger kann schließlich genauso Teil einer Klausur sein wie ein häufiger. Immer wieder fragen wir Medizinstudierende uns, warum wir auch seltene Erreger oder seltene anatomische Varianten lernen müssen. Schließlich ist es eher unwahrscheinlich, dass wir jeden dieser Erreger und jede anatomische Variation im späteren klinischen Alltag wiedertreffen werden. In zahlreichen Gesprächen für die Website www.diagnose-lebensfroh.de und in unterschiedlichen Praktika durfte ich jedoch lernen, dass Seltenes gar nicht so selten ist, wie man glaubt. Auf jeden Fall habe ich erfahren dürften, dass es sich lohnt, Seltenes nicht nur für eine Prüfung zu lernen. Beispielsweise dürfte ich Stephanie Schüler kennenlernen. In ihrem Leben wird sie von sechs Hunden begleitet – für mich eine absolute Seltenheit. Außerdem betreibt sie Triathlon und wird im Jahr 2022 bei der Challenge Roth über die Langdistanz starten – eine bewundernswerte Herausforderung, die in Deutschland nur wenige Menschen schaffen. Stephanie Schüler erhielt darüber hinaus die Diagnose Anti-mGlu-Rezeptor-5-Encephalitis – eine absolut seltene Erkrankung, für die es noch keine Heilung gibt. Dies sind nur drei Besonderheiten an Stephanie, doch in dieser Kombination sind sie nicht nur selten, sondern sehr selten. Ich würde sogar soweit gehen und sagen, dass sie einmalig sind. Genauso dürfte ich Carina Hilfenhaus kennenlernen. 2021 absolvierte sie eine mehrtägige Fahrradtour in Garmisch-Partenkirchen, auf der sie rund 3000 Höhenmeter überwand – eine beeindruckende und seltene Leistung. Begleitet hat sie dabei u. a. ihr Herzschrittmacher – an sich in Deutschland gar nicht so selten. Der Grund dafür jedoch schon: Carina hat das Sick-Sinus-Syndrom. Noch seltener als dieses Syndrom ist jedoch der Pseudotumor cerebri, mit dem Carina lebt. Einmal mehr würde ich sagen, dass die Kombination dieser drei Eigenschaften unglaublich selten, ja einzigartig ist. Sowohl Carina als auch Stephanie werden durch ÄrztInnen betreut und begleitet, die Seltenes richtig erkannten und wussten, wie sie mit außergewöhnlichen Menschen und Geschichten richtig umgehen. Es scheint damit doch wahrscheinlicher zu sein, dass angehende ÄrztInnen im Berufsleben auf Seltenes treffen. Was genau das Seltene ist, hängt dabei auch von der Facharztrichtung ab.

In meinem Hausarztpraktikum waren Rollstuhlfahrende selten – in der Praktikumszeit erlebte ich einen von zwei Rollstuhlfahrern, die regelmäßig in die Hausarztpraxis kommen. In der Praxis wussten natürlich alle, wer dort gerade zur Tür hereinfährt. Während meiner Praktikumszeit in einem Querschnittsgelähmtenzentrum waren Rollstuhlfahrende hingegen gar nicht so selten… Gehende Personen, die nicht zum medizinischen Personal gehörten, fielen auf. Und wenn die gehenden Personen vor einigen Jahren selbst noch als Rollstuhlfahrer Patient auf der Station waren, fielen sie gleich noch mehr auf – sie waren selten. Einmal mehr wussten alle, Pflegende und ÄrztInnen, Bescheid, wer gerade auf seinen eigenen zwei Beinen die Station besucht. An seltene, ja besondere Menschen
erinnert man sich (besser).Dabei ist doch jeder Mensch selten und besonders, oder? Gibt es einen Menschen, der zu hundert Prozent genauso ist wie du? Selbst Zwillinge gleichen einander vielleicht äußerlich und teilen die gleichen Hobbies, doch vielleicht ist es das besondere Muttermal über der Lippe, das den Unterschied macht. Es lohnt sich also, sich an jeden Patienten und jede Patientin zu erinnern – schließlich ist jeder besonders. In der Praxis ist dies jedoch schwierig und so erinnert man sich an die ganz besonderen Menschen – eben an Seltene(s).

Da verwundert es kaum, dass ich mich noch Francisella tularensis erinnern kann. Mit lustigen Eselsbrücken versuchten wir, uns auch die vielen seltenen Bakterien zu merken  und sie blieben hängen. Die Lernkarten für die häufigen Erreger waren natürlich dichter beschriftet und wurden häufiger wiederholt – auf sie traf ich auch schon wiederholt zu einem frühen Zeitpunkt meiner medizinischen Laufbahn. An sie erinnere mich daher aufgrund zahlreicher Wiederholungen und nicht, weil sie besonders sind. Es lohnt sich daher Häufiges und Seltenes zu wissen – so selten ist Seltenes nämlich gar nicht. Wenn Sie die beiden oben beschriebenen Sportlerinnen und auch andere spannende außergewöhnliche Menschen noch besser kennenlernen möchten, finden Sie ausführliche Interviews auf der Homepage www.diagnose-lebensfroh.de.

Ein Gastbeitrag von Katharina Tscheu

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