Gastbeiträge
Bereits im Jahr 2000 hat die Politik ihr Interesse bezüglich der spezifischen Problematik seltener Erkrankungen kundgetan. Jedoch wurde erst im Jahr 2013 das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE), aufgrund einer Initiative der EU, in Deutschland installiert. Frankreich war diesbezüglich Vorreiter, indem es einen Plan erstellt hat, der dazu dienlich sein sollte die Interessen der Betroffenen umzusetzen. Im Jahr 2009 erfolgte ein zweiter, der diesen ergänzte bzw. korrigierte. Deutschland, als „Musterschüler“, hat sich mit 4 weiteren Staaten (Belgien, Niederlanden und Ungarn) erst im Jahr 2013 angeschlossen. Frankreich hat in der Zwischenzeit bereits einen 3. Plan (2018-2020) aufgestellt.
Seltene Erkrankungen sind gekennzeichnet durch eine sehr große Variabilität und betreffen alle Gebiete der Medizin. Einige von ihnen beschränken sich auf ein einzelnes Organ. Andere werden als Syndrom bezeichnet, da sie mehrere bestimmte Organe oder aber einen ganz bestimmten Symptomkomplex umfassen. In eine dritte Kategorie fallen die sogenannten systemischen Erkrankungen (wie beispielsweise der Lupus erythematodes) deren Auswirkungen sämtliche Strukturen des menschlichen Körpers betreffen können.
Laut Untersuchungsberichten aus den Jahren 2013/2014 werden ca. 5 neue Erkrankungen pro Woche gefunden bzw. beschrieben. Dies ist nicht erstaunlich, denn ca. 80 % der „seltenen Erkrankungen“ sind genetisch bedingt und die Gensequenzierung führt zu immer besseren Möglichkeiten eine entsprechende Ursache zu finden. Wurden zu Beginn der Aufzeichnungen von ca. 6000 bis 7000 seltenen Erkrankungen ausgegangen, so dürften heute ca, 8000 bekannt sein.
Die Hälfte der Patienten mit einer seltenen Erkrankung sind Kinder. Zwei Drittel der Erkrankungen sind schwere Erkrankungen.
Alle seltenen Erkrankungen weisen aber Gemeinsamkeiten auf:
- Sie führen zu erheblichen körperlichen Beeinträchtigungen, einer schlechteren Lebensqualität und dem Verlust der Autonomie.
- Sie sind von Schmerzen begleitet, welche einen weiten Raum im Leben der Betroffenen besetzen.
- Sie verlaufen in den meisten Fällen, progredient und chronisch
- In fast 50% der Fälle sind die Prognose lebensbedrohlich.
- Sie sind oftmals von Isolation begleitet, da es in der Öffentlichkeit an Wissen um die bestehende Problematik mangelt, was dazu führt, dass die Betroffenen in ihrer Problemlage nicht verstanden werden.
Der Weg bis zur Diagnose stellt eines der Hauptprobleme dar. Die Heterogenität der Erkrankungen und der dazugehörigen Symptome führt zu zahlreichen Tests und in der Regel zu unzähligen Besuchen vieler verschiedener Fachärzte. Nicht selten und zum Leidwesen der Betroffenen auch zu etlichen Fehldiagnosen, b.z.w. Fehlbehandlungen.
Die Erfahrungen der Ärzte sind meistens unzureichend. Schon bei häufig auftretenden Erkrankungen, wie beispielsweise einer idiopathischen Parkinson-Erkrankung, dauert es manchmal Jahre bis zur Diagnose. Bei einer seltenen Erkrankung ist dementsprechend noch viel weniger mit einer schnellen und korrekten Diagnose zu rechnen. Die mittlere Dauer bis zur Stellung eine Diagnose dauert in Europa ca. 4 Jahre, bei vielen Betroffenen jedoch sehr viel länger. In manchen Fällen vergehen sogar Jahrzehnte bis zur Diagnose, b.z.w. bis zu einer adäquaten Behandlung
Die vielen Jahre, die auf der Suche nach der richtigen Diagnose auf der Strecke bleiben, können zu einem unwiderruflichen Verlust an Gesundheit führen. Eine fehlende Diagnose kann auch zu gesellschaftlichen Nachteilen führen, entsprechende Untersuchungen aus Frankreich und Belgien liegen vor.
In Deutschland wird den Betroffenen häufig eine somatoforme Störung bescheinigt. Dies stellt oftmals eine große, zusätzliche seelische Belastung für die betroffenen Patienten dar, da eine solche Diagnose nicht selten zur Stigmatisierung führt und die eigene Identität in Frage stellt. Des Weiteren erschwert eine solche „Verlegenheits-Diagnose“, den Weg bis zur richtigen Diagnose. Leidens-Wege werden unnötig verlängert, nicht selten der Weg zur angemessenen Behandlung sogar vollständig verbaut.
Weiterhin kann die finanzielle Bürde sehr groß werden, beispielsweise wenn ein Elternteil sich um das erkrankte Kind oder ein Familienmitglied sich um einen älteren Angehörigen kümmern soll. Auch das Aufsuchen von Spezialisten, welches den Betroffenen oft sehr weite Anfahrtswege an weit entfernte Orte abverlangt, kann hohe Kosten verursachen.
Die Pharma-Unternehmen sind an der Entwicklung von Medikamenten, die auf die jeweiligen Erkrankungen angepasst sind, wenig interessiert. Es lohnt sich nicht, da zu wenig Absatz entstehen würde. Lediglich für ca. 5% der Patienten (2014) die eine seltene Erkrankung haben sind Behandlungen, die ein mehr oder weniger lebenswertes Leben erlauben, vorhanden. Die Lage dürfte sich innerhalb der letzten 5 Jahre nicht geändert haben.
In Deutschland wurden im SGB Anpassungen vorgenommen, diese sehen Erkrankungen mit besonderem Verlauf und seltene Erkrankungen vor. Von den Vorhaben die hieraus abgeleitet werden müssen, ist jedoch bei weitem nicht alles realisiert. Es finden sich nur wenige Erkrankungen in den ausgearbeiteten Richtlinien wieder. Eine Idee war es, Ambulante Spezialfachärzliche Versorgungszentren (ASV) zu gründen, nur sehr wenige seltene Erkrankungen sind hierbei berücksichtigt und die Anzahl an vorhandenen ASV ist extrem gering.
Die Wege bis zur Diagnose sind in Deutschland nicht besser geworden, dies wird in den vorhandenen Regelungen nicht berücksichtigt.
Auch wenn die ausgearbeiteten Empfehlungen den Begriff des „Primärversorgers“ beinhalten, bedeutet dies nicht, dass dieser, besondere Maßnahmen (wenn fachfremd), treffen kann. Auch wurde das „Vorhanden Sein“ eines solchen nicht sichergestellt. Die Behandlung einer seltenen Erkrankung bedarf in vielen Fällen Fachärzte aus sehr unterschiedlichen Richtungen. Diese müssen gemeinsam und nicht jeweils getrennt, wie immer noch üblich, sich um die Diagnose und die darauffolgende Behandlung kümmern.
Sowohl die Allgemein - als auch die Fachärzte denken immer noch zu wenig an die seltenen Erkrankungen und oftmals dürfte nicht ermittelt werden können, welche Fachdisziplin für die bestehenden Symptome oder Syndrome wirklich zuständig ist. Auch genetische Untersuchungen bleiben oftmals aus.
Aus ethischem Blickwinkel betrachtet fällt ein schlechtes Licht auf die medizinische Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen. Oftmals werden sie regelrecht zum Opfer des derzeitigen Gesundheitssystems. Da die Ressourcen des Sozialsystem begrenzt sind, werden Kosten / Nutzenanalysen vorgenommen. Dabei wird davon ausgegangen, dass seltene Erkrankungen sehr hohen Kosten verursachen. Dies stimmt zum Teil auch, jedoch sind solche Analysen mangels an Erkrankten nicht wirklich aussagekräftig, vor allem bei Krankheitsbildern von denen nur sehr wenige Patienten betroffen sind. Dadurch werden seltene Erkrankungen mit niedriger Priorität behandelt.
Weitere ethische Fragestellungen betreffen die genetischen Beratungen und Untersuchungen. Zielführend sind die Diskussionen an dieser Stelle nicht.
Informationen über seltene Erkrankungen sind ebenso selten wie die Erkrankungen, die festgeschriebene Aufklärung findet nicht wirklich statt. Die Betroffene sind gezwungen mühsam im Internet suchen.
Wir haben eine Solidargesundheitssystem. Menschen die von einer seltenen Erkrankung betroffen sind bezahlen ebenso in dieses System ein, wie diejenigen die gesund sind oder ein „übliches“ Leiden haben. Sollten sie somit nicht wie jeder andere auch Anspruch auf eine adäquate medizinische Versorgung haben?!
Seltene Erkankungen und medizinische Betreuung
Schon für die üblichen Leiden ist das Gesundheitssystem derzeit suboptimal gestaltet, der Kostenfaktor pro Fall ist begrenzt und die individuellen Belange der Einzelnen können unter den wirtschaftlichen Aspekten nicht optimal gewährt werden. Bei vielen seltenen Erkrankungen, die einer interdisziplinären Vorgehensweise bedürfen, wirkt sich das System sehr negativ aus. Wenn Fachärzte aus verschiedenen Richtungen einen Patienten betreuen fehlt des Öfteren eine zielgerichtete Kommunikation zwischen den Spezialisten, was nicht selten zu erheblichen Pannen führt. Es ist auch schwierig einen Primärversorger zu finden (der Arzt der hauptverantwortlich ist und alle Maßnahmen, Untersuchungen usw. steuert).
2013 wurde NAMSE (Nationaler Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen) aufgerufen. Von den damals beschlossenen Maßnahmen wurden bis jetzt zu wenige realisiert siehe https://www.namse.de. Eine Vorgabe der Gesetzgebung ist der Ausarbeitung der Richtlinien für das Etablieren von ASV (Ambulante Spezialfachärztliche Versorgung). Diese Einrichtungen sollten für alle Seltenen Erkrankungen und Erkrankungen mit besonderen Krankheitsverläufen entstehen. Ein verschwindend geringer Anteil wurde implementiert und es sieht nicht danach aus, dass das Tempo an dieser Stelle erhöht wird.
Ethisch betrachtet sollte den Betroffenen sofort geholfen werden, praktisch bleibt für die Meisten alles beim Alten. Dies bedeutet, dass sich die medizinische Versorgung für viele nicht verbessert hat und dass es noch Jahrzehnte bis zur Realisierung der gesteckten Ziele dauern wird.
Seltene Erkrankung und Forschung
Laut https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/medizinischen-fortschritt-vorantreiben-1554844 dürften ca. 2.5 Milliarden Euro zur medizinische Forschung vom Staat aufgewandt werden.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung stellt jährlich rund zwei Milliarden Euro für die Förderung der Gesundheitsforschung zur Verfügung.
Dagegen stehen lediglich geringe Mittel die zur Erforschung von seltenen Erkrankungen zur Verfügung gestellt werden:
https://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/seltene-erkrankungen-6437.php
Im Februar 2018 veröffentlichte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die „Richtlinie zur Förderung translationsorientierter Verbundvorhaben im Bereich der Seltenen Erkrankungen“. Damit verstärkt es sein Engagement auf diesem Gebiet: 107 Millionen Euro investierte das BMBF seit 2003 bereits in nationale Verbundprojekte, um die Ursachen von Seltenen Erkrankungen zu erforschen und neue Therapieansätze zu entwickeln. Die neue Initiative stellt dafür bis 2022 weitere 21 Millionen Euro bereit. Wichtigstes Ziel ist es, die Situation der Betroffenen zu verbessern.
Da die Anzahl an Betroffenen ca. 5% der Bevölkerung beträgt, müssten 100 Million Euro pro Jahr in die Forschung für Seltene Erkrankungen investiert werden. Der größte Teil der Forschungsgelder dürfte jedoch anderen Forschungszielen, als denen der der seltenen Erkrankungen, gelten. Da das Engagement für seltene Erkrankungen einer internationalen Vorgehensweise bedarf, dürften ca. 12 Millionen Euro Pro Jahr auf sehr geringe Anstrengung hindeuten. https://www.bmbf.de/upload_filestore/pub/Bufi_2018_Hauptband.pdf scheint diese Angaben zu bestätigen, die Forschungsmittel sind anteilig viel zu gering.
Statistische Daten gibt es bis 2017, es ist allerdings nicht zu entnehmen wofür die Forschungsgelder ihre Verwendung fanden.
Unter der Annahme, dass der gleiche Betrag wie für die EU in der Deutsche Forschung geflossen wäre, kommt man immer noch nicht auf ein ausreichenden Betrag.
Resümee
Viele offene Baustellen sind vorhanden und werden auf absehbare Zeit sicherlich nicht geschlossen werden, denn der politische Wille ist hierfür offenbar viel zu gering. Es erhebt sich an dieser Stelle die Frage, ob die Politik sich nicht wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar macht.