Gastbeiträge
Ein neues Projekt zur schnelleren Diagnose der seltenen Erkrankungen
Smartes Arztportal für Betroffene mit unklarer Erkrankung (SATURN)
Die Anzahl der bislang bekannten Krankheiten wird derzeit auf ca. 30.000 geschätzt. Die Zahl der seltenen Erkrankungen wird in Deutschland mit bis zu 8.400 angegeben, während in Frankreich erstaunlicherweise lediglich von 7.000 seltenen Erkrankungen ausgegangen wird. Möglicherweise wird diese Zahl auf unterschiedliche Weise ermittelt, so dass es zu verschiedenen Angabe kommt. Wenngleich die derzeitige Datenlage demnach wenig gesichert erscheint, so wird zumindest offenkundig, dass kaum ein Arzt in der Lage sein dürfte, die ganze Bandbreite möglicher Erkrankungen zu kennen.
Um der bestehenden Problematik ein Stückchen näher zu kommen sollte zunächst einmal die Definition von Erkrankung/Krankheit/Syndrom geklärt werden. Denn diese Begriffe können leicht missverstanden werden.
Eine Krankheit ist ein ungewöhnlicher Zustand, der zu einer Beeinträchtigung führt.
Die Symptome und Befunde, die eine Erkrankung begleiten, können auf viele Erkrankungen hinweisen. Beispielsweise treten die Leitsymptome der Parkinson-Krankheit auch bei anderen Erkrankungen auf. Deutlich wird dies mitunter an der Progressiven supranukleären Blickparese, die mit einem Parkinson-Syndrom einhergeht, und viele verschiedene Varianten aufweisen kann. Die ersten Symptome können sehr unterschiedlich sein, was dem verantwortlichen Arzt die Diagnose nicht gerade leichter macht. Auch bei anderen Erkrankungen, wie beispielsweise der systemischen Sklerose, einer Autoimmunerkrankung, verhält es sich nicht anders, als bei der oben genannten neurologischen Erkrankung.
Als Syndrome werden gleichzeitig auftretende Symptome bezeichnet. Sie weisen auf bestimmte Erkrankungen hin. Manchmal scheint ein Syndrom aus der Sicht der Betroffenen gleichbedeutend mit einer Krankheit zu sein. Die Ursachen, welche den Symptomkomplexen zugrunde liegen, können jedoch sehr vielfältig sein. Sie können auf Infektionen, Vergiftungen, die genetische Ausstattung eines Menschen, sowie andere Umwelteinflüsse zurückzuführen sein.
Einige Erkrankungen sind unmittelbar genetisch bedingt und führen, früher oder später, immer zu einer Störung. Es gibt Erkrankungen, die bei ganz bestimmten Genen auftreten und solche, die zwar genetisch bedingt sind, für diese es aber kein spezielles Gen gibt, das zur Erkrankung führt. In diesem Fall sind viele unterschiedliche Gene an der Entstehung der Erkrankung beteiligt. Andere Erkrankungen scheinen lediglich eine genetische Komponente zu haben und treten nur gelegentlich auf. Hier geht man von multifaktoriellen (Gene und Umweltfaktoren) Ursachen aus. Solche „Umweltfaktoren“ können Giftstoffe, Alter, Traumata und vieles mehr sein.
Zufällige Mutationen (Veränderungen einzelner Gene) während der Zellteilung können ebenso zu Erkrankung führen, wie biochemische Prozesse in den Zellen.
Es ist offensichtlich, dass es aufgrund der Vielzahl an Erkrankungen für Ärzte nicht immer möglich ist, alles im Blick zu haben und eine Diagnose zu stellen. Erschwerend hinzu kommt, dass sich das Wissen sehr schnell erhöht und fortwährend neuere Erkrankungen entdeckt werden.
Mit Hilfe der Informatik können jedoch, Hinweise auf mögliche Erkrankungen gegeben werden. Neue Technologien wie KI (Künstliche Intelligenz) werden als Möglichkeit für eine schnellere und effizientere Diagnose angesehen.
Der erste Einsatz von KI erfolgte in der Krebsbehandlung (Watson Health). Später kam sie bei der Bildanalyse zum Einsatz (MRT, ...). Leider wies das System auch Fehler auf, die Anzahl der Daten, die das System kannte, war zu gering und möglicherweise fehlerhaft.
Derzeit gibt es eine Reihe von Systemen, die bereits existieren oder sich in der Entwicklung befinden.
DeepGestalt analysiert Gesichtsaufnahmen von Kindern mit einer genetischen Erkrankung, die sich auf das Aussehen auswirkt. Mit diesem Werkzeug können Ärzte gezielter weitere Untersuchungen durchführen. Mehr als 200 Erbkrankheiten können so schneller diagnostiziert werden.
ADA von ADA Health, ein privates Unternehmen. Es gibt zwei Versionen, eine für Laien und eine für Ärzte. Neben der Diagnose von Volkskrankheiten werden auch viele seltene Erkrankungen abgedeckt.
AccelRare (https://www.accelrare.fr/) ist ein System, das derzeit in Frankreich entwickelt wird. AccelRare deckt jedoch nur 270 seltene Krankheiten ab. Das Projekt befindet sich noch in der Entwicklung und einige Funktionen werden nicht vor 2025 verfügbar sein. Dass es schon so weit ist, liegt daran, dass die Prädiagnosewerkzeuge der Firma Medvir verwendet werden. Diese Tools sind seit 14 Jahren im Einsatz. Die von AccelRare bereitgestellten Informationen zu den vermuteten Erkrankungen enthalten eine kurze Beschreibung der jeweiligen Krankheit, Angaben zu den diagnostischen Schritten sowie Angaben zu Referenzzentren.
SATURN (https://www.saturn-projekt.de/) kann als deutsches Pendant zu AccelRare angesehen werden. Das Forschungsprojekt soll es ermöglichen, Patienten mit unklaren Beschwerden besser zu diagnostizieren und schneller einer geeigneten Behandlung zuzuführen. Siehe auch https://www.iese.fraunhofer.de/blog/ki-zur-diagnostik-von-seltenen-erkrankungen/
Das Projekt SATURN zielt darauf ab, den Arzt in die Lage zu versetzen, das System anhand der erfassten Patientendaten (Symptome etc.) zu konsultieren. Neben möglichen Diagnosen sind auch Informationen über spezialisierte Zentren sowie die Kontaktaufnahme mit Spezialisten vorgesehen.
SATURN ist, ebenfalls KI-basiert und verwendet verschiedene Arten von KI. KI-Systeme sind hochspezialisiert und werden für unterschiedliche Anwendungen entwickelt. Beispiele sind die Übersetzung von einer Sprache in eine andere, die Suche nach Ähnlichkeiten in Bildern bzw. das Sammeln von Daten unterschiedlicher Art. Die Aufgabe der untersuchten KI-Verfahren ist das Erkennen von Ähnlichkeiten. Dies führt zu Hinweisen auf mögliche Erkrankungen, Nennung von spezialisierten Zentren etc.
Eine erste Version wurde pünktlich am 29. Februar 2024 vorgestellt, ist aber noch lange nicht fertig und es sind noch viele Arbeiten notwendig. Die Förderung des Projekts läuft nur noch bis Dezember 2024. Ob SATURN weitergeführt wird und zu einem anwendbaren System führt, ist fraglich. Möglicherweise wird es die Grundlage für ein zukünftiges System bilden.
Trotz vielfältiger Bemühungen die Lage derer, die von einer seltenen Erkrankung betroffen sind, zu verbessern, sind die Wege bis zu einer exakten Diagnose noch immer viel zu lang.
Gemäß offizieller Angaben zufolge, dauert es bei seltenen Erkrankungen durchschnittlich 3 Jahre, bis die richtige Diagnose gestellt wird. Dies scheint jedoch nicht die ganze Wahrheit zu offenbaren. Beim Ehler-Dahnlos-Syndrom beispielsweise werden 50 % der Betroffenen innerhalb von 14 Jahren diagnostiziert, 75 % aller Betroffenen erst nach 28 Jahren. Und 50 % derjenigen, die unter einer seltenen Erkrankung leiden haben gar keine genaue Diagnose (Quelle: AccelRare). Erschwerend hinzu kommt sicherlich auch noch eine nicht unerhebliche Dunkelziffer.
Eine frühe und exakte Diagnose ist jedoch von außerordentlicher Bedeutung. Für die allermeisten Patienten ist es wichtig, der Erkrankung einen Namen geben zu können, da die Ungewissheit sehr zermürbend ist.
Das „Kind“ beim Namen nennen zu können macht die Erkrankung greifbarer und ermöglicht den Betroffenen eine Auseinandersetzung mit der veränderten Lebenssituation. Auch dann, wenn es keine Therapiemöglichkeiten gibt und keine Hoffnung auf Besserung besteht.
Weiterhin kann mit Hilfe einer exakten Diagnose in vielen Fällen eine bessere und gezieltere Behandlung erfolgen. Gesicherte Diagnosen ermöglichen den Betroffenen zudem die Teilnahme an Studien, innerhalb welcher sich die behandelnden Ärzte intensiv mit dem Verlauf einer Erkrankung befassen, objektive Befunde erheben und neue Medikamente testen können. Die so gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen wiederum bessere Diagnoseverfahren und die Entwicklung neuer Therapien.
Trotz aller technischer Möglichkeiten erscheint es jedoch wichtig, dass Ärzte für das Thema „seltene Erkrankungen“ sensibilisiert werden. In der Regel liegt der Focus in der täglichen Routine auf den häufigsten Erkrankungen. An seltene Erkrankungen wird kaum gedacht, mitunter vermutlich auch weil Ärzte im Rahmen ihrer Ausbildung hierfür zu wenig geschult werden. Hinzu kommt, dass, zur „dedektivischen Kleinarbeit“, welche zur Diagnosefindung oftmals notwendig wäre, in der Praxis kaum die entsprechende Zeit zur Verfügung steht.
Letztendlich darf bei allen vorhandenen Bemühungen wohl nicht vergessen werden, dass die Diagnose von seltenen Erkrankungen oder auch das Erfassen von Krankheitsverläufen, die abseits des medizinischen Alltags liegen, auch in Zukunft eine große Herausforderung für alle Beteiligten bleiben wird.
Sowohl Ärzte als auch Patienten sind und bleiben Menschen, welche als solche immer auch von Subjektivität, eigenen Erfahrungen, Ängsten und Unsicherheiten geprägt sind. Die Arzt-Patienten-Beziehung sollte, neben modernsten Technologien, deshalb nicht aus dem Blickfeld geraten.